Geschrieben von Bhikshu Thich Nhu Dien
Verfasst am 28. April 2008 bei der Pagode Phật Ân, Minesota in Amerika.
Ins Deutsche übertragen von Thị Chơn und Josef Kaufhold
Ich habe die Möglichkeit viel zu reisen und besuche viele Orte. Auf diese Weise ist es mir möglich, von anderen Menschen zu lernen und Lebenserfahrungen mit ihnen auszutauschen.
In diesem Leben gibt es viele Menschen, die über die glückliche Fähigkeit verfügen, den Kern einer Sache zu erfassen, Vorstellungen von den Zusammenhängen zu entwickeln, das Wichtige festzuhalten und umzusetzen. Die meisten sind deshalb optimistisch. Dennoch gibt es auch Menschen, die ihr Leben pessimistisch führen und nicht wissen, wie sie sich von möglichen Fesselungen (upàdàna) befreien können, um mehr entspannte Freude für das innere Leben zu erreichen.
Als Lehrer und geistiger Anleiter spreche ich oft mit meinen Schülerinnen und Schülern. In den Gesprächen höre ich das Argument: „Weil ich die Probleme beherrsche, kann ich im Leben aktiv sein und alle Umstände beherrschen; die Schüler hingegen, die abhängig von einem Meister und deshalb passiv sind, können ihr Leben kaum selbstständig führen, sie sind nicht eigenständig und nicht aktiv in der Gestaltung ihrer Arbeit.“
Der Zusammenhang ist deutlich. In Asien übernehmen wir oft die Kenntnisse und Erfahrungen des Lehrers, des spirituellen Meisters. Eine Folge könnte tatsächlich sein, dass Kreativität sich dadurch nur wenig entwickeln kann. Ganz anders ist dagegen die westliche Lehr- und Lernmethode in der heutigen Zeit. Der Ausbilder, der Lehrer ist eigentlich ein Freund der Schüler, der Studenten. Er teilt ihnen sein Wissen und seine Erfahrungen mit; die Schüler müssen eigenständig damit umgehen, sie motivieren und aktivieren sich selbst, das fördert die Fähigkeit des selbstständigen Handelns. Diese Schüler werden sicherlich weniger abhängig sein, als es die Erziehung in asiatischen Ländern ermöglicht.
Mit dem Eintritt in die Erwerbstätigkeit, in das Gesellschafts- und Familienleben verteilen sich die Verantwortlichkeiten, jede und jeder wird in diesem System mit seinen speziellen Fähigkeiten eingesetzt und übt seinen Beruf aus. Es werden Gruppen von drei, fünf, sieben oder zehn Personen gebildet. Diese Gruppen sind in der Regel eigenverantwortlich, tragen ihre Aufgaben in einem System, dass übergeordnet miteinander verbunden ist, sich ergänzt und sichert. Dies ist die Organisation des Verhaltens in der Schule, in der Gesellschaft und im Berufsleben in hiesigen westlichen Gesellschaften.
Natürlich bedürfen solche Gesellschaften führender Persönlichkeiten ebenso wie in Asien. Diese Leitenden sollen aber Personen sein, die den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zuhören, die mit ihnen sprechen und sie motivieren, damit die gemeinsame Sache Erfolg hat. Das ist die Grundlage. Negativ wirken Personen, die andere als Trittbretter benutzen, deren Fleiß und Kraft nutzen, um selbst zu Ansehen zu gelangen – was in einigen asiatischen Ländern leider üblich ist.
Der Erfolg aber bleibt ein kollektives Ergebnis. Eine einzelne Person kann nicht alles verantworten, da im Großen und Ganzen die Gemeinschaft, die Gesellschaft nicht zu beeinflussen ist. Diesen Umstand haben führende Personen zu berücksichtigen, sie haben Erfolg und Misserfolg mit ihren Mitarbeitern zu teilen. Sie haben nicht das Recht, im Fall eines Misserfolges auf die anderen mit dem Finger zu zeigen, um selbst keine Verantwortung übernehmen zu müssen.
Eine solche Gesellschaft ist relativ gerecht. Sie lernt, macht Fortschritte und wird nach und nach besser. Und dennoch scheint es, als könnten die Menschen dieses System nicht beherrschen, es nicht zum Wohl aller nutzen.
Der Grund hierfür ist, dass das menschliche Leben egozentrische Züge besitzt und ichbezogene Persönlichkeiten fördert. Egozentrische Menschen leben für sich selbst; sie fördern nur die eigene Person und den eigenen Besitz. Sie entwickeln keine Achtung vor den Menschen, die sich in ihrem Umfeld befinden, sogar nahe stehende Familienangehörige werden nicht geachtet. Was solch ein Verhalten für die menschliche Gesellschaft bedeutet, das möge jeder für sich einschätzen. Allerdings bleibt eine Wirkung unbestritten: Je reicher der Mensch an Materiellem wird, desto ärmer wird oft sein geistiges Leben.
Bei einer Führung für deutsche Studenten in der Vien Giac Pagode bei Hannover sagte ich: „In der heutigen Zeit klettern die Preise aller Dinge nach oben; nur eines ist wirklich billig. Kennen Sie es?“
Die Studenten blickten sich gegenseitig an, um die passende Antwort zu suchen. Für sie habe ich schließlich die Antwort gegeben. Es ist „die Ethik der Menschen“. Ethik ist zurzeit sehr preiswert! Die ethischen Lebensprinzipien werden billig und frei gehandelt, sie werden nach belieben umgedreht, umgedeutet und verkehrt. Das Leben in der Familie und in der Gesellschaft wird gering geschätzt, der Verfall der Werte wird hingenommen. In der Familie und in der Gesellschaft geht es nur noch um Materielles, um Geld und Einfluss. Und es gibt recht wenige Leute, die gegen die Unwissenheit (avijjana), die Leiden (dukkha) und gegen den Kreislauf von Geburt und Tod (samsara) kämpfen.
Man fragte mich: „Verehrter Meister, wie soll man ungezwungen und ohne Einfluss von anderen Dingen leben? Wie soll man sich verhalten, wenn Leiden und unangenehme Umstände entstehen?“
Es scheint, als könnte es auf diese Frage, die sich so einfach anhört, auch eine einfache Antwort geben. Es gibt aber tausend Möglichkeiten zu antworten. Ich entschied mich auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen und Erkenntnisse und antwortete: „Es ist möglich, ein friedvolles, gelassenes Lebens zu führen, wenn man fähig ist, loszulassen, was des Loslassens bedarf und beizubehalten, was beibehalten werden muss.“
Die Antwort hört sich einfach an, doch was in ihr steckt, ist nicht leicht zu verwirklichen. Die meisten Menschen wollen eben alles behalten. Wir haben unsere Mitbringsel gesammelt, die wir ins Leben mitnehmen wollen. Sie belasten oft derart unsere Schultern und unseren Geist, dass uns die Kräfte fehlen und es keinen Platz lässt, für die Entwicklung unserer geistigen Fähigkeiten, für die Formung unseres Geistes. Es gibt keinen Ort mehr in unserem inneren Leben, der Platz lässt für nutzbringende Gedanken und Äußerungen. Dieses System entsteht, weil die Fähigkeit des Loslassens der Menschen sehr schwach ausgeprägt ist. Die Menschen halten fest, sie haften an, obwohl die Fähigkeit des Anhaftens völlig überflüssig ist. Sie ist nämlich die Ursache (hetu) in dieser Sinnenwelt (kàmaloka). Der Mensch (pudgala) will alles in sich und in seinen Geist schließen.
Wir sollten dennoch wissen, wie lang man festhalten kann? Können es zehn, zwanzig, fünfzig oder sogar hundert Jahre sein? Wenn wir nicht loslassen wollen, so werden auch die Jahre uns trennen. Sie trennen uns von allem, vom Geld, von der Liebe, vom Ruhm, von der Schönheit, vom Vermögen, von nahstehenden Personen, von der Macht, vom Thron usw. . .
Was ist denn die wahre Natur der Dinge? Die Antwort lautet: „Nichts“. Aus dem „Nichts“ kommen wir und letztendlich kehren wir wieder zum „Nichts“. Warum soll man dann eigentlich um Position, Macht oder Geld kämpfen, wenn alles Streben ohnehin zu einem großen „Nichts“ führt. Um diesen Zusammenhang wissen alle Menschen, aber verhindern wir das Leid? Wir lösen uns nicht. Stattdessen entstehen die Zuneigung (tanha); die Abneigung (dosa); die Unwissenheit (moha); der Dünkel (màna); die Zweifelsucht (vickiccha), die unheilsame Sicht (akusala ditthi); einseitige Ansicht (Ewigkeitsglaube (sassata ditthi) oder Vernichtungsglaube (uccheda ditthi); das Anhaften an Vorstellung (ditthiparàmàsa ditthi); das Anhaften an falsche Gewohnheiten, bestimmte Regeln, Riten und Rituale während der Übung (sìlaabbataparàmàsa ditthi) und die Verdrehtheit in Ansichten (micchà ditthi) … und noch vielerlei Arten des Anhaftens mehr; sie gleichen einem komplexen, vielfach zerknüllten Seidennetz. Mit diesem Netz fesseln wir uns selbst.
Neulich traf ich meinen Dharma Onkel in Houston, den Alt – Hochehrwürdigen Thích Chơn Điền. Er ist auch ein Dichter mit dem Künstlernamen Ngốc Tử (Der Idiot). Ein Gedicht, welches von ihm 2007 verfasst wurde, trägt den Titel „Die Fliege beklagt sich im Spinnennetz“:
„Wegen Sinnenlüste springt man
in den Ort von Geburt und Tod.
Karmisch unwissendes Bewusstsein
führt man umher.
Schmutziger Teich von fünf Hemmungen
wird noch trüber.
Leiden und Leiden sind
von uns selbst verursacht“
Wenn wir uns die Aussage des Gedichtes vor Augen führen, so erkennen wir, dass der Mensch über eine richtige Anschauung verfügen und eine ausreichende Vorstellung seines Universums entwickeln kann, er aber trotzdem ein Leben in dieser leidvollen und betrüblichen Existenz weiter führt. Das Anhaften, das Habenwollen bringt uns dazu, uns immer wieder zu drehen, so wie die Fliege sich selbst im Spinnennetz gefangen setzte. Es scheint uns, als verfüge dieser Ort, diese Welt über viele Freuden, und doch sind es bloß Verunreinigungen (klesá) und Leiden (dukkha), die sich anhäufen. Doch uns ist es nicht genug und wir halten nicht ein. Unwissenheit (avijjana) und karmische Kraft (karmabala) haben uns hierher geführt, wir wissen nicht, wie wir sie beherrschen können und leider deshalb darunter. Der Weise und der Unwissende sind an diesem Punkt verschieden. Der Weise gleicht einer Fliege, die weiß, dass eine Spinne gerade vor ihr ein Netz einrichtet. Die unwissende Fliege aber ist unachtsam, sie versucht noch nicht einmal anzuhalten; letztendlich stirbt sie im Fangnetz. Auch wir sind nicht anders. Das Leben an diesem Ort – von der Geburt bis zum Tode – verfügt reichlich über süßen Honig, Milch, Butter, fleischliche Freuden, Schönheit, Ruhm …! Aber – wer weiß, zur rechten Zeit zu stoppen? Oder erhoffen wir ein Wunder.
Das Leben in dieser Sinnenwelt (kàmaloka) ist von Natur aus unrein. Es ist wie in einem trüben Teich. Bei jeglichem Versuch, sich zu bewegen, wird er noch trüber und wir können uns selbst nicht mehr von diesem Ort entfernen. Im Grunde ist diese Welt unrein, trüb, unangenehm, leidvoll usw . . . ; heute leiden wir unter dem gegebenen Leid. Tatsächlich aber fügt niemand uns Leiden hinzu, sondern Leiden (dukkha) ebenso wie die Friedlichkeit (sikkha) werden von uns selbst geschaffen.
Der Grundsatz der Probleme im Umgang mit uns selbst heißt: „Loslassen der belastenden Sorge“! Was wir uns tragen können, wird von uns getragen; was wir schultern können, wird von uns geschultert; und was wir nicht verkraften können, bürden wir nicht auf. Man soll sich nicht mit allen Kräften um etwas bemühen, was man nicht kann und nicht hilft. Alles Bemühen bewahrt uns nicht vor Geburt und Tod. Wir werden nicht verschont. Was wir nicht tragen können, werden unsere Nachfolger übernehmen; sich zu sorgen, das ist nicht nötig. Wenn der Mensch denkt, dass die Gesellschaft ohne ihn nicht auskommen könne, dann unterliegt er einer täuschenden Selbsteinschätzung. Es gab einmal einen Geschäftsführer einer berühmten Firma; dieser dachte, niemand könne ihn ersetzen. Unerwartet starb er infolge eines Autounfalls und nur drei Tage nach seinem Ableben hatte diese Firma einen neuen Geschäftsführer – und der war erfolgreicher als der Vorgänger.
Wenn wir letztlich sterben, existiert selbst das Unkraut am Straßenrand weiter. Viele sind es, die uns noch nicht einmal freiwillig begleiten. Sie teilen unsere Leiden, die uns begegneten und auch die, mit denen wir noch konfrontiert werden. Eine Schlussfolgerung aus einer Lehrrede S.H. 14. Dalai Lama: „Derjenige, der langjährige Praxis hinter sich hat, soll sich selbst betrachten, dass er gar nichts sei, so ist er ein wahrer Praktiker“. Wenn jede und jeder von uns so praktizieren würde, wäre dieses Leben sehr sinnvoll.
Meistens erkennen wir die Angelegenheiten anderer rasch, selten aber nur unsere eigenen. Von anderen sehen wir meist zuerst die Fehler, doch nur selten nehmen wir unsere eigenen Fehler wahr. Wenn das Eigene zu sehen ist, so sehen wir das Positive, selten aber sehr wir in uns das Negative.
Warum ist das so? Wir halten uns für das Subjekt, das Ich, das über das Recht verfügt, das jeweils Andere zu kritisieren; das Ich, das sich für den Maßstab hält, mit dem das Andere gemessen wird. Wenn wir in der Lage wären, das Ich und das Andere in den Austausch treten zu lassen, dann könnten wir besser mitempfinden und auch besser verzeihen. Wir sind von der Existenz unseres Ichs überzeugt, wir festigen unser Ich (atman), doch in Wirklichkeit bedeutet dieses Ich gar nichts; es ist ein großes „Nichts“. Und wenn es ein „Nichts“ ist, ist dann ein Reden darüber überhaupt noch notwendig? Solche Ausführungen erübrigen sich. Jeder von uns, der diese Wahrheit respektiert, soll ein glückliches Leben haben. Ein russisches Sprichwort sagt: „Glück ist, was man gerade in den Händen hält, und nicht das, was man sucht“. Es stimmt! Oft sucht man nach allen Dingen der Welt und vergisst darüber, auf die eigene Person zu schauen. Deshalb quälen uns die Leiden aus Geburt und Tod. Doch wenn wir erkennen, wer wir und wie wir sind, dann wissen wir anzuhalten.
Doogen, ein Ch´an Meister der Tào Động Linie (vietnamesische Schule nach Ts´ao-tung) im 13. Jahrhundert, ging nach China und hielt sich in der Pagode Cảnh Phước in Provinz Triết Giang auf, um die Lehre von der Erleuchtung zu studieren. Er erreichte den Dharmastand, so bezeugt es der alte Ch´an Meister Như Tịnh, durch die Dharmalehre über die Erkenntnis: „Einfacher Geist (citta) ist der Weg (magga)“.
Das bedeutet, dass das einfache Bewusstsein, die Lehre (dharma), der Weg ist. Manchmal suchen wir das Außergewöhnliche und vergessen das Einfachste, das wir gegenwärtig innehaben. Es sind „zwei Augen, die sich unter den Augenbrauen befinden; eine Nase, die senkrecht steht; ein Mund, der unter dieser Nase liegt.“
So ist der einfache Geist. Wir haben nie richtig zu schätzen gewusst, was wir gegenwärtig besitzen, sondern wir suchen ständig nach dem Neuen und Äußeren, letztendlich aber erhalten wir bloß Leiden und Unangenehmes und wir leiden erneut darunter. Wir sind wie die Motten, die sich selbst ohne Verstand im Licht der Öllampen verbrennen; und wir wissen nicht, dass wir, wenn wir uns nicht in den Staub des irdischen Lebens graben, die Wahrheit der Leidenschaften und die Kehrseite aller bedingten weltlichen Bindungen erkennen können. Wenn wir diesen Zusammenhang erkennen, ist es leider oft schon zu spät!
Die Lehre von den Vier Edlen Wahrheiten (catvari ariya sacca), in der die fünf Gebrüder Kaundinya von dem Erhabenen im Garten Marganika in Benares nach der Erleuchtung unterwiesen wurden, hat eine außergewöhnliche und zeitlose Bedeutung. So lange den Menschen die Wahrheiten über Leiden (dukkha satya), die Ursachen der Entstehung von Leiden (dukkha samudaya), die Methode zum Erlöschen der Leiden (dukkha nirodho) und den zum Nirvana, Friedfertigkeit und Befreiung führenden Weg (dukkhanirodhagàminì patipadà), bewusst sind, können sie ein glückliches Leben führen. Das Glück schenkt uns niemand und man kann das Glück auf dem Markt nicht kaufen. Es befindet sich nicht außerhalb von uns, sondern gerade in uns. Zu unserem inneren Geist sollen wir zurückkehren; das eigene Innere achtsam betrachten, nur so können wir es erleben. Im Augenblick des Erkennens werden wir Freude empfinden und darüber lächeln, dass wir uns selbst so lange betrogen haben.
Warum ist der Mensch oft wütend (moha) und unwissend (dosa)? Weil wir stets zeigen möchten, dass unser Wissen immer recht und richtig ist. Es ist manchmal aber nicht so. Der Grund dafür ist, dass wir das eigene Ich (atman) selbst erzeugt haben und in ihm falsche Ansichten, Vorstellungen akkumuliert wurden. Wenn andere unserer Vorstellungen nicht teilen, so kommen in uns Zorn und Gerechtigkeitsdünkel auf. Der Weise hingegen hält den Zorn an, in dem er sich nicht in diese Lage bringen lässt. Mit starkem Selbstbewusstsein trinkt er ein Glas Wasser, um die Wut zu besänftigen; mit Mut und Willen zur Verbesserung steht er vor einem Spiegel, der irgendwo im Haus hängt, und so kann er sein „Eigenes Urgesicht“ (svabhava) durchaus wahrnehmen.
Gewöhnlich halten wir uns für schön. Doch wie sehen wir nach einer Attacke von Zorn tatsächlich aus? Sind wir dadurch schöner geworden? Mit Sicherheit nicht. Durch das eigene Schamgefühl (hiri), die sittliche Scheu, das Gewissen (ottappa) und mit dem Beistand von edlen Freunden (kalyana-mitta) können wir sicherlich aus der Tiefe des Elendsozeans aufsteigen. Gelingt es uns nicht, so werden wir in der Avici Unterwelt (niraya) vergraben sein, dort, wo keine Zeit vergeht und ein Austritt aus der finsteren Sphäre ungewiss ist.
Die Erde (pathavi), auf der wir stolpern können, ist aber auch ein Ort, der uns unterstützen kann, damit wir aufrecht stehen und uns mit freien Händen bewegen können. Von dort aus geht man in das Leben mit unterschiedlichem Verhalten. Es gibt Menschen, die am Straßenrand zusammenbrechen. Sie stürzen auf die Erde; sie sind unfähig, sich zu regen, es ist zu mühsam, aufzustehen und weiterzuleben. Letztendlich begraben sie den aus vier materiellen Elementen zusammengesetzten Leib (catvari dhàtu – kàya: festes Element (pathavi), flüssiges E. (apo), Wind-W (vayo) und Hitze-E. (tejo)) tief in der Erde. Die Erde führt teilnahmslos eine sehr gerechte Arbeit aus. Sie wies niemals einen Leichnam verächtlich zurück.
Der Ozean ist unermesslich, er nimmt aber keinen Leichnam auf. Es ist eindeutig und nicht von der Hand zu weisen, dass ein Mensch über genügend Möglichkeiten und Kenntnisse verfügt, für sich selbst einen Weg zu wählen, einen, der die Wege anderer nicht versperrt. Zum Ausgang kann man sich kreuz und quer bewegen; der Weg nach Innen aber hat nur ein Ziel – das Erkennen der Natur des Geistes (bhava). In diesem Augenblick stören wir niemanden, sondern wir lächeln, weil wir das wahre Gesicht der Geburt und des Todes erkannt haben.
Ein buddhistischer Arzt sagte mir, dass er bei dem, was er heute zu den buddhistischen Aktivitäten beiträgt, sich nicht um Spott oder Lob anderer kümmert. Er befürchtet vielmehr, dass das, was er leistet, nicht genügend sinnvoll und nützlich für die Förderung des Buddha Dharma sein könnte. Diese Haltung stellt eine Lebensphilosophie, eine Lebenseinstellung und Weltanschauung eines buddhistischen Intellektuellen dar. In dieser Welt gibt es viele „Gebildete“, aber wenige „Verständige“. Der Intellektuelle versteht andere mehr als das eigene Selbst; der Verständige hingegen versteht sich gut auf das eigene Selbst, mehr als auf andere.
Das Verstehen ist möglich, wenn wir alle die folgende Praxis (samskàras) beherzigen: „Zuerst sich selbst beschuldigend, dann anderen vorwerfend.“ Dies bedeutet, wir suchen die Schuld, den Fehler zuerst bei uns, dann erst ist die Suche bei anderen angebracht. Auf diese Weise wird diese Gesellschaft bestimmt noch friedlicher und glücklicher; die Menschen darin werden in Sicherheit und Frieden (sukkha) leben. Beherzigen die Menschen dies nicht, so werden sie ihren Leib (kàya) und Geist (citta) selbst verbrennen.
Loben und Verspotten besitzen in Wirklichkeit keine wahre Natur. Wenn es dem jeweiligen Gegenüber passt, wird man gelobt; umgekehrt wird man getadelt. Dies ist im Menschenleben so gewöhnlich. Und wir? Orientieren wir unsere Lebensführung nach solcher Lobrede oder Kritik neu? Würden wir tatsächlich darauf eingehen, so würden wir passiv und nicht mehr so sein, wie wir wirklich sind! Ein Beispiel: Wenn man unsere Schönheit und Gesundheit lobt, so werden wir froh; und wenn man uns tadelt und sagt, dass wir hässlich und dumm sind, werden wir traurig. Nun ist die Frage berechtigt, ob solche Emotionen wie Freude und Traurigkeit einen wahren Hintergrund haben oder nicht? Warum lassen wir uns von solchen Aussagen belasten? Alt oder jung, schön oder hässlich, gut oder schlecht – es sind Gegensätze in diesem Leben. Warum wollen wir uns von ihnen verformen lassen und zu Sklaven bloßer Sätze werden. Wenn sie uns steuern, so folgen wir ihnen atemlos nach, doch am Ende bringt es nichts. Lediglich die Verunreinigungen (klesá) werden stärker, es behindert das Bewusstsein und erspart nicht die Leiden (dukkha), die auf uns warten.
Somit wird die Frage gestellt: Wie viel sei uns genug?
Wer sich genug fühlt, der ist sich selbst genug; wer nicht weiß, wann er genug hat, dem ist es niemals genug.
Wie viel Liebe ist uns genug? Wie viel Geld, Ansehen, Position sind uns genug? Vermögen, Kinder und Ruhm, wie viel kann genug sein? Ganz eindeutig – sie sind wie Zeit und Raum. Die Zeit ist unendlich und der Raum ist unbegrenzt. Sie haben keinen Anfang und kein Ende, außer dem Wissen darum, die Leiden (dukkha), die Geburt und den Tod (samsàra) zu beenden.
In diesem Sinn hat Nguyễn Công Trứ, ein vietnamesischer Dichter, geschrieben:
„Der Kreis
des Ruhmes und Reichtums
ist gekrümmt,
wer darin gefangen ist,
will davon sich lösen;
andere aber möchten
hinein.“
Der Ruhm und der Reichtum sind die Süße des Lebens, sie sind aber nicht „gerade“, nicht geradlinig, sondern gekrümmt; es ist schwierig, hinein zu treten. Aber genau das möchten viele Leute versuchen. Da unzählige Dichter und Gebildete diese irdische Sphäre erlebt haben, empfanden und empfinden manche darüber einen Widerwillen. Andere hingegen, und davon gibt es viele, sind noch unwissend und noch nicht erwacht, so entsteht ein Misston: „Trommel und Trompeten unharmonisch spielend“. In Wirklichkeit äußert sich die Wahrheit sehr klar. Wenn aber die Menschen beabsichtigen, sich selbst zu betrügen, werden vor ihren Augen die wahrhaft schönen Seiten des Lebens verschleiert.
Ein Ch´an Meister betrachtet die Blüte, den Vollmond, den Menschen und die Dinge; und stellte sie wie folgt dar:
„Die Blume blüht
zum Vergehen.
Der Mond rundet
zum Abnehmen.
Man bleibt
zum Abschiednehmen“
Es ist eine grundsätzliche Aussage für das Leben. Und es ist auch das wahre Gesicht (svabhava) des Lebens. Wir sollen der Geburt und dem Tod (samsara) gegenüber stehen und sie beherrschen; uns aber nicht beeinflussen lassen. Wenn uns das gelänge, wären wir wirklich selbst.
Wie kann man in dieser relativen Welt leben, damit andere zufrieden werden?
Diese Frage scheint umfassend. Genau betrachtet müssen wir unsere eigenen Kräfte prüfen, wir müssen ergründen, was wir selbst dulden (kammammatà) können, um dann in der Erkenntnis von Wahrheit und Unwahrheit, Recht und Unrecht Entscheidungen zu treffen. In den alten Erzählungen gibt es eine Geschichte, die den Menschen einen Spiegel vorhält. Ich möchte Ihnen diese Geschichte erzählen:
Vor langer Zeit gab es einen Vater und einen Sohn. Beide kauften sich einen Esel und waren sehr glücklich mit dem Erworbenen. Der Sohn beritt den Esel. Unterwegs warfen ihnen Fremde vor: „Warum ist der Sohn so pietätlos? Er ist zwar noch jung und reitet den Esel, aber sein alter Vater muss in stechender Sonne zu Fuß gehen.“ Der Vater hörte den Vorwurf und fand die Aussage logisch, darum forderte er den Sohn auf, abzusteigen und stieg nun selbst auf den Rücken des Esels. Sie gingen eine Weile weiter und hörten erneut Kritik von anderen: „Der Alte hat kein Mitleid mit dem eigenen Sohn. Es ist sehr heiß. Und er lässt den Jungen zu Fuß gehen, reitet lieber selbst den Esel!“ Der Vater fand, als er das hörte, diese Meinung auch richtig. Schließlich dachte er nach: Wenn der Vater ritt, wurde getadelt; und ritt der Sohn, wurde auch getadelt. Also forderte der Vater den Sohn auf, ebenfalls auf den Rücken des Esels zu steigen. So würden sie nicht mehr verspottet werden. Beide ritten nun das Tier. Nach einer Weile hörten sie erneut Stimmen: „Warum haben diese Beiden kein Mitleid zu dem Tier; der Esel ist klein und wird von dem Vater und dem Sohn geritten! Wie kann das Tier das nur verkraften? Wenn es stolpert, wird es sich die Beine brechen.“ Jetzt gab es nichts mehr zu denken, glaubte der Vater. Beide stiegen ab und gingen zu Fuß. Nach einer Weile begegneten sie Fremden, der eine flüsterte dem anderen zu: „Warum sind diese Beiden so doof? Das Tier ist geboren den Menschen zu dienen. Warum reiten sie es nicht, sondern gehen mühsam zu Fuß?“
Genau betrachtet waren alle Bemerkungen und Ausführungen logisch. Vater und Sohn waren allen Argumenten gefolgt und konnten doch niemanden zufrieden stellen. Schließlich entschloss sich der Vater, den Rest der Reise allein zu bestimmen und keiner Rede von Fremden mehr zu folgen.
Man soll sich selbst bestimmen, fremden Anliegen und Ansichten kann man nicht folgen.
Dies entspricht der Lehre des Erhabenen: „Ihr sollt keiner Rede vertrauen, selbst wenn sie von mir gesprochen wurde. Ihr sollt keiner Meinung vertrauen, auch wenn sie über mehrere Generationen hin überliefert wurde. Ihr sollt dem vertrauen, was ihr selbst durch eigene Erfahrung erlebt habt.“
So ergibt sich die Vielfalt in diesem Leben. Jeder soll eine Lebensart suchen, die ihm geeignet erscheint und seinem eigenen Leben bestens dient.