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Was man schon immer über die Pagode Vien Giac – das buddhistische Zentrum – wissen wollte

Mittelfeld ist ein etwas gemächlicher und geordneter Stadtteil. Gepflegte Vorgärten mit akkurat geschnittenem Rasen schmücken die Einfamilien-Reihenhäuser, auf den Balkonen der Hochhäuser ranken Geranien und drehen sich regenbogenbunte Windrädchen. Die wenigen schmucken Altbauten strahlen in der herbstlichen Nachmittagssonne, als hätten Stuck und Außenfassade gerade erst einen neuen Anstrich bekommen. Auf dem Gelände des Kleingartenvereins Wülfel e.V., der gar nicht so klein ist, beackern zahlreiche Rentner ihre 20 Quadratmeter-Paradiese und machen die Datschen wintertest. In der Karlsruher Straße schieben türkischstämmige junge Mütter ihre Kinderwägen an russischen Jugendlichen vorbei, fröhlich miteinander ins Gespräch vertieft. Andere Passanten eilen in Richtung des Seniorenheims oder in den benachbarten großen Lebensmitteldiscounter. Dort ist es inzwischen auch nichts Außergewöhnliches mehr, wenn ein buddhistischer Mönch in brauner Kutte seinen Einkaufswagen neben einen schiebt. überall wird noch gebaut, verschönert, erweitert. Man schätzt und hasst die Nähe zur Messe.

All diese Ruhe und Zufriedenheit vermittelt einem das Gefühl, Mittelfeld sei ein bisschen in der Zeit stehen geblieben. Zumindest würde es einen nicht wundern, den Edeka-Laster für den Direkt-Straßenverkauf um die Ecke biegen zu sehen. Oder einen Mercedes 230 SL in einer Seitenstraße zu entdecken, jenes Modell, das wegen seines geschwungenen Daches auch „Pagode“ genannt wird. Solche Hommagen an die asiatische Baukunst haben die Mittelfelder aber gar nicht nötig. Denn ebenfalls in der Karlsruher Straße steht auf einem 4.000 Quadratmeter großen Gelände eine echte Pagode: das buddhistische Zentrum und Kloster Vien Giac. „Vien Giac“ ist vietnamesisch und bedeutet „vollkommene Erleuchtung“. Vielleicht ist auch das der Grund, warum Mittelfeld einen so ruhigen Eindruck vermittelt. Doch nicht nur für den Stadtteil nimmt die Pagode als buddhistisches Zentrum und Begegnungsstätte verschiedener Kulturen einen besonderen Stellenwert ein. Sie ist welt- und europaweit eine der größten außerhalb Vietnams und in Deutschland sogar die größte. Jährlich lockt sie 7.000 bis 8.000 Menschen aus ganz Europa zu den großen buddhistischen Festen Vesak (Geburtstag Buddhas) und dem Neujahrsfest Anfang Februar und dem Ullambanafest (Verstorbenen Andachtsfeier) etwa Ende August. Dann wird Mittelfeld richtig bunt und lebendig: Autos mit Kennzeichen aus ganz Deutschland und dem europäischen Ausland parken alles voll. Menschen mit geschorenen Köpfen und auch langen Haaren in verschiedenfarbigen Kutten und Gewändern – jeweils gemäß der buddhistischen Richtung, der sie angehören bevölkern das Kloster-Gelände und die angrenzenden Straßen. Chinesen verkaufen ihr landeseigenes Bier vom Bordstein weg an Passanten. Ein Sprachengewirr liegt über dem Stadtteil, und es ist, als wäre eine besonders fröhliche Messe einen halben Kilometer gen Norden gewandert oder als befände man sich auf einem asiatischen EXPO-Revival. Beliebt ist auch die Silvesternacht, zu der im Kloster ein festes Programm mit einer „Unheilsamen Bekenntnis Zeremonie“ und einem bunten Kulturabend stattfindet. Und stets nach Neujahr gibt es auch einen kleinen Ansturm von buddhistischen Laien, die sich traditionsgemäß die Glückssymbole, zwei Mandarinen und einen Glückspfennig in einem roten bunten Glücktüte verpackt, mit einem Segen für das kommende Jahr beim Abt persönlich abholen.

Gegründet wurde Vien Giac von Ehrwürdigen Ven. Thich Nhu Dien. Er wurde bereits mit 15 Jahren in der „Original-Pagode“ Vien Giac in Vietnam ordiniert, machte sein Abitur 1971 in Saigon, legte sein Mönchsgelübde ab und studierte anschließend in Tokio Pädagogik und Buddhistische Wissenschaft. Er kam nach dem 30. April 1975 (dem Fall Saigons und offiziellem Ende des Vietnam-Krieges) nach Deutschland für ein weiteres Studium und blieb aufgrund der geistigen Betreuung seiner Landsleute als Boat People bis heute. Es war vor allem der ehemalige Ministerpräsident Ernst Albrecht, der sich in den 1970er Jahren für die Aufnahme von zunächst 1.000 vietnamesischen Flüchtlingen und deren Förderung durch das Land Niedersachsen einsetzte und damit bundesweit ein Exempel setzte. Inzwischen leben circa 120.000 Vietnamesen in Deutschland; rund 30.000 von ihnen haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Durch die Jahrhunderte lange chinesische Besetzung ist die weitest verbreitete Religion in Vietnam der Buddhismus, vor allem die Mahayana-Tradition („großes Fahrzeug“). Mahayana ist die jüngere und größte Strömung im Buddhismus. Hier können nicht nur Mönche und Nonnen, sondern alle Menschen das Nirwana erreichen. Ihr gehören auch in Deutschland die meisten Buddhisten an. Für Ehrwürdigen Ven. Thich Nhu Dien, der nach der Aufnahme durch Albrecht in Hannover vietnamesische Flüchtlinge betreute, lag es da auf der Hand, der Religion seiner Landsmänner und -frauen auch einen Raum in der neuen Heimat zu geben. Die erste Buddha-Gedenkstätte in Hannover war eine Garage in der Kestnerstraße. 1980 konnte man sich mit Hilfe von weiterer finanzieller Unterstützung schon steigern und mietete Hallen in der Eichelkampstraße in Mittelfeld. Doch auch hier Überstieg die Zahl der Besucher die räumlichen Möglichkeiten recht bald, so dass 1984 das Gelände der Beton-Union in der benachbarten Karlsruher Straße 6 gekauft und mit Spendengeldern schließlich die heutige Pagode erbaut werden konnte. Am 18. Mai 1990 wurde das Richtfest auf dem Dach der Großen Halle gefeiert. Mittlerweile gibt es ein vielfältiges Netzwerk aus buddhistischen Zentren, Vereinen und vietnamesischen Kulturzentren in Deutschland, bei dem der hannoverschen Pagode als Kongregation der Vereinigten vietnamesisch-buddhistischen Kirche e.V. Abteilung Deutschland – eine besondere Stellung gleich einem Dachverband zugute kommt. Bei der 25-Jahr-Feier 2003 gab Ehrwürdiger Ven. Thich Nhu Dien seine langjährige Tätigkeit als Abt des Klosters Vien Giac an seinen ersten Schüler Ehrwürdiger Mönch Thich Hanh Tan ab, der Religionswissenschaft an der Universität Hannover studiert hat und sich durch den Aufbau des Vien Giac Institute in Bodhigaya/lndien seine Sporen in Sachen buddhistischem und kulturellem Austausch verdiente.

20 von rund 45 Mönchsschülern und Nonnenschülerinnen des Abtes leben ständig in Hannover im Kloster. Sie kommen aus dem gesamten asiatischen Raum plus ein Deutsche. Alle Mönche und Nonnen sind frei zu studieren oder zu arbeiten, wo sie wollen. Aber es wird von ihnen erwartet, dass sie während der asiatischen Regenzeit, also der drei Sommermonate, ins heimische Kloster kommen, um „wieder die Batterie aufzutanken“, wie die Ehrenamtlichen gerne sagen. Hinzu kommen noch 4 Jung-Novizen, von denen der jüngste gerade mal11 Jahre ist. Sie leben zwei Leben, denn sie wollen die Lehre des Buddha kennen lernen, um Mönch zu werden und nehmen daher soweit es geht am klösterlichen Leben teil. Doch natürlich sind sie durch die Schulpflicht, Sportverein, Eltern etc. auch noch weiterhin im weltlichen Leben verhaftet. „Das ist ganz schön hart, eigentlich viel härter als das bloße Mönchsleben“, sagt Ngô Ngọc Diệp, der als Leiter des „VIetnamesisch-BUddhistischen Soziokulturellen Zentrums“ in der BRD (VIBUS) und der VietYDao-Praxis (Vietnamesisch Alternative Medizin) im Kloster für geistliche Betreuung, heilpraktische Kurse zuständig ist, aber auch ehrenamtlich für sonstige Kurse und Führungen so viel Zeit für Vien Giac opfert, wie sein Brotberuf als Dolmetscher und seine Familie es zulassen. Die Pagode hat drei Arbeitsbereiche: Lernen und Praktizieren der Buddha-Lehre, soziale Dienstleistungen und Kultur, Körperertüchtigung und Gesundheit. In allen drei Bereichen werden das ganze Jahr über Kurse angeboten. Kinder und deren Erziehung aber, oder besser: Geleitung hin zu Toleranz und Akzeptanz im Sinne des Buddhismus sind ein großer Schwerpunkt im Selbstverständnis der Pagode. Für den vietnamesischen buddhistischen Jugendverband „Tam Minh“ bietet sie jeden ersten und dritten Sonntag im Monat Platz fürs Vietnamesisch-Lernen, Buddha-Lehre, aber auch soziale Angebote wie Nachhilfeunterricht, Erste-Hilfe-Kurse, gemeinsam Singen und Spielen. „Erstens ist es wichtig, dass die Kinder die Sprache lernen, damit sie den Kontakt zu ihrer Heimat, zu ihren Großeltern, pflegen können“, sagt Ngô´. „Zweitens sollen sie die Buddha-Lehre kennen lernen, um gütige Menschen zu werden. Nicht für sich, sondern für die anderen, für die Gesellschaft. Es gibt kein Leben ohne Lernen, alles basiert auf Selbstverantwortung. Es geht darum, dass man nicht am Leben vorbei lebt. Das sollen die Kinder früh lernen, das versuchen wir aber auch allen anderen Besuchern zu vermitteln“ erklärt Ngô. Kinder anderer Nationalitäten sind übrigens immer herzlich willkommen, denn „Tam Minh“ sieht seine Angebote als Beitrag zum interkulturellen Jugenddialog. Es gab schon Sonntage, da waren 80 Kinder zu Gast. Generell möchte die Pagode offen für alle sein: Buddhisten, buddhistische Laien und Anhänger anderer Religionen. „Der Buddhismus geht davon aus, dass alle Menschen absolut gleichberechtigt sind. Und wie viel man selbst dafür tut, ein guter Mensch zu werden, ist Kern der Religion. Deswegen gibt es auch keinen Gott, keine Fürbitten. Mir persönlich geht es daher bei Führungen nicht so sehr darum, unbedingt die Buddha-Lehre im Schnellverfahren zu vermitteln, sondern die persönlichen Praxis – Erfahrungen mit dem Buddhismus“, so Ngô. Er selbst beispielsweise ist nach einem Gehirnverschluss und einer Lähmung, die selbst den hannoverschen Spezialisten Rätsel aufgab, nach einiger Zeit mit Hilfe des Buddhismus wieder „auferstanden“, wie er es nennt. Von einem Ausspielen der verschiedenen buddhistischen Richtungen gegeneinander halten die Mitarbeiter und Mönche der Pagode nichts. Das sei auch für die Kursangebote nicht so relevant. „Für uns gibt es nur einen Buddhismus. Die Grundlagen sind überall gleich, ob das nun Zen ist oder Mahayana. Der Buddhismus hat die Form des Wassers: Er passt sich an die Verhältnisse an. Es gibt lediglich Unterschiede im Karma, und dagegen kann man selbst etwas tun. Alles ein Prinzip aus Ursache und Wirkung“, erklärt Ngô weiter. Trotzdem finden die hannoverschen Buddhisten es natürlich etwas komisch, wenn ihre Religion, Philosophie und Kultur von westlichen Gesellschaften zum Trend erhoben wird. Denn heutzutage ist ja jeder schon Experte, der Brad Pitts Goldschopf in „Sieben Jahre in Tibet“ bewundert hat oder Keanu Reeves als Prinz Siddartha in „Little Buddha“. Und jeder, der ganz selbstverständlich zwischen Tai Chi – Kurs und Reiki Behandlung beim Latte Macchiato den Ausdruck „mal was fürs Karma tun“ benutzt, hat zu Hause seine Möbel nach Feng Shui aufgestellt, schläft auf Futon und kauft dem oder der Liebsten zum nächsten Geburtstag einen Zimmerspringbrunnen oder etwas Sand für den Zen-Garten. Da sind Ngô und seine Leute schon darauf bedacht, asiatische Lebensart nicht mit der Buddha-Lehre oder religiösen Praktiken gleichzusetzen. Aber so komisch das klingt: Selbst dafür ist die Pagode offen, dass jeder, der irgendwie neugierig ist, herausfinden darf, inwiefern Buddhismus für ihn oder sie nur ein Lifestyle-Accessoire darstellt oder ob da nicht doch der Wille zur vollkommenen Erleuchtung erwacht ist.

(Dieser Artikel wurde im Hannovermagazin Stadt Kind, Ausgabe Nov.2005, Heft9/JG1 veröffentlicht)