Im vergangenen Jahr wurde Thich Nhu Dien 70 Jahre alt. Er hat die vietnamesische Lam-Te-Schule nach Deutschland gebracht und ist einer der einflussreichsten Vertreter des Buddhismus hierzulande. Zugleich hat er die Integration der Vietnamesen in Deutschland entscheidend mitgestaltet – und damit auch eine wichtige Wegstrecke buddhistischer Vielfalt in diesem Land. In seinem Essay würdigt Olaf Beuchling Leben und Wirken des Dharmameisters und gibt einen Einblick in die Lam-Te-Schule.
Ein Beitrag von Dr. Olaf Beuchling veröffentlicht in der Ausgabe 2020/02 Diversity unter der Rubrik SCHWERPUNKT Diversity
Auf dem umfriedeten Gelände der Klosterpagode Vien Giac in Hannover drängen sich die Menschen: Tausend oder mehr Gäste sind in den Sommertagen des Juni 2019 zusammengekommen, um den 70. Geburtstag des Gründerabts dieses eindrucksvollen Klosters zu feiern, des deutsch-vietnamesischen Mönches Thich Nhu Dien.
Die meisten Besucherinnen und Besucher, die im Schatten weißer Festzelte ein vegetarisches Mahl genießen oder in der Andachtshalle des Klosters an einer der buddhistischen Zeremonien teilnehmen, sind vietnamesischer Herkunft. Viele von ihnen stammen aus Familien, die in den 1970er-Jahren ihre Heimat verlassen haben, um in einem westlichen Land in Frieden und Freiheit leben zu können. Die Mehrheit der Mönche und Nonnen unter den vielen Gästen tragen die Roben der vietnamesischen Lam-Te-Tradition. Andere sind westliche Nonnen in tibetischer Tradition oder Theravada-Mönche, unter ihnen namhafte Persönlichkeiten wie Bhante Seelawansi aus Wien, Bhante Seelavi aus Kanada oder Bhante Olande Ananda aus Sri Lanka.
Thich Nhu Dien lebt seit 55 Jahren im Sangha, ist der Überlieferer der vietnamesischen Lam-Te-Schule nach Deutschland, Impulsgeber der Deutschen Buddhistischen Ordensgemeinschaft und Vize-Präsident des World Buddhist Sangha Council. Nicht weniger als 70 Bücher hat er geschrieben und übersetzt – eine Arbeit, die er während der Sommerklausur zu erledigen pflegt, wenn sich die Mönche und Nonnen der buddhistischen Klöster einmal im Jahr zurückziehen und dem spirituellen Leben mehr Zeit einräumen. Zudem hat er weit über einhundert Stipendiatinnen und Stipendiaten ein Studium ermöglicht, spricht sechs Sprachen – Vietnamesisch, Deutsch, Chinesisch, Englisch, Japanisch und Französisch – und wirkt als buddhistischer Lehrer nicht nur in seiner Heimat Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern wie Dänemark, Norwegen oder Frankreich und außerhalb Europas in den Vereinigten Staaten, Australien oder Indien. Dennoch tritt er bescheiden auf, spricht mit leiser, fast schüchterner Stimme und scheut sich nicht, im einfachen Alltagsgewand durch das Treiben auf dem Klostergelände zu schlendern und mit Besucherinnen und Besuchern zu plaudern.
Ein einfaches Bauernkind
Thich Nhu Dien wird am 28. Juni 1949 unter dem weltlichen Namen Le Cuong als jüngstes von acht Kindern geboren. Er wächst in einem Dorf in der mittelvietnamesischen Provinz Quang Nam auf. Seine Eltern sind einfache Bauern und fromme Buddhisten.
Den vietnamesischen Buddhismus gibt es nicht. In Vietnam existiert eine Vielzahl verschiedener buddhistischer Überlieferungen, die zumeist dem Mahayana zugerechnet werden, dazu eine kleinere Anzahl von Theravada-Klöstern, vor allem an der Grenze zu Kambodscha , sowie sowie eine Schulrichtung, die explizit Mahayana- und Theravada-Lehren kombiniert (Dao Phat Khat si).
Die religiöse Landschaft des Landes ist in hohem Maße synkretistisch, wenn nicht gar eklektisch – Traditionen und Lehren werden miteinander vermischt.
Die überwiegende Mehrheit der Buddhistinnen und Buddhisten in Vietnam und in Übersee aber steht der Lam-Te-Schule mit einer Handvoll verschiedener Übertragungslinien nahe. Was Außenstehenden in der Regel nicht klar ist: Lam Te ist die vietnamesische Übertragung der Richtung, die auf Chinesisch Linji heißt und die in Japan als Rinzai-Zen bekannt ist. Doch während die japanische Rinzai-Schule bereits 1191 aus der chinesischen Linji-Tradition nach Japan übertragen wurde, gelangte die heutige Hauptlinie der vietnamesischen Lam-Te-Schule erst im 17. Jahrhundert nach Vietnam. Darum enthält sie zahlreiche Elemente, die in China ab dem 12. Jahrhundert zunehmend in die Chan-Traditionen eingeflossen waren, allen voran Reines-Land-Vorstellungen, aber auch tantrische und volksreligiöse Praxis.
Unter dem Eindruck der damaligen Spannungen zwischen der buddhistischen Mehrheit und der katholischen Oligarchie in Süd-Vietnam, entscheidet sich der jugendliche Le Cuong für ein Leben im Kloster. Er folgt damit den Fußstapfen seines älteren Bruders Thich Bao Lac, der bereits Jahre zuvor Mönch geworden war und heute der vietnamesischen buddhistischen Gemeinschaft in Australien und Neuseeland vorsteht.
Am 15. April 1964 geht Le Cuong mit Einverständnis seiner Eltern in die Hauslosigkeit. In dem Kloster Vien Giac („Vollkommene Erleuchtung“), das später namensgebend für sein eigenes Kloster wird, beginnt er sein Noviziat. Nach einer Erkrankung seines Meisters setzt er dies in der Pagode Phuoc Lam („Wald der Verdienste“), ebenfalls in der beschaulichen Hafenstadt Hoi An gelegen, fort. Obgleich er während seiner Grundschulzeit zu den schwächeren Schülern zählt, muss der Novize in Hoi An parallel zum Klosterleben eine buddhistische Mittelschule besuchen und besteht später in Saigon als einer der Besten das Abitur. Dass sich seine Schulleistungen im Laufe der Jahre so sehr verbessern, führt Thich Nhu Dien rückblickend auf die intensive Praxis im Klosteralltag zurück, wo das Memorieren der Rezitationstexte, die Meditation und das Fehlen weltlicher Ablenkungen dem Jugendlichen helfen, seinen Geist zu fokussieren.
Nach dem Abitur wird dem jungen Mönch ein Stipendium in Japan angeboten. Ab 1972 lernt er in Tokio zunächst Japanisch, studiert dann Pädagogik und Buddhismuskunde, während er bei Ordensbrüdern in einem Kloster wohnt und tief in die japanische Kultur eintaucht. Ungeachtet der sprachlichen Herausforderung schließt er bereits 1977 sein Pädagogikstudium als zweitbester Absolvent ab. „Tokio ist zwar nicht meine Heimat, doch die Zeit, die ich dort verbrachte, zählt für mich zu meinen wertvollsten Erfahrungen“, sagt er später.
Angstvolle Zeit unter dem roten Banner
Die Situation in seiner Heimat hat sich inzwischen verändert. Zwar ist der Krieg beendet, dennoch starten nordvietnamesische Truppen nach dem Rückzug der USA im April 1975 eine Offensive und nehmen bereits nach wenigen Tagen Süd-Vietnam ein. Die Amerikaner evakuieren Zehntausende von Südvietnamesen, die für die frühere Regierung gearbeitet hatten. Für andere beginnt unter dem roten Banner der neuen Machthaber eine angstvolle Zeit der politischen und religiösen Unterdrückung und der wirtschaftlichen Entbehrungen. Familien der Mittelschicht werden enteignet, viele Intellektuelle und Ordensleute landen in Umerziehungslagern oder werden zur Zwangsarbeit in die sogenannten neuen Wirtschaftszonen verbracht. Angesichts dieser Situation entscheidet sich Thich Nhu Dien, zunächst nicht heimzukehren. Stattdessen folgt er der Einladung eines Jugendfreundes ins norddeutsche Kiel, wo ihn Exilvietnamesen überzeugen, in Deutschland zu bleiben und eine Gemeinde aufzubauen. „Ich hoffte“, erinnert sich der Mönch, „dass ich auf dieser Reise den Schock überwinden könnte, den der Verlust der Heimat in mir hervorgerufen hatte.“ Er lernt nun Deutsch, seine mittlerweile sechste Sprache. 1978 wird er an der Universität Hannover immatrikuliert, sein Antrag auf politisches Asyl genehmigt. Die Geschichte des vietnamesischen Buddhismus in Deutschland nimmt ihren Anfang.
Die Klosterpagode Vien Giac in Hannover fängt 1978 als kleine Andachtsstätte an und expandiert im Laufe der Jahre zu einem der größten Klöster in buddhistischer Tradition in Europa. Heute gilt sie als Kraftzentrum des vietnamesischen Buddhismus in Deutschland und diente bereits als Austragungsort für internationale buddhistische Kongresse. Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama, hat sie bereits zweimal besucht. Inzwischen finden sich Pagoden und Andachtsstätten auch in Hamburg, Berlin, München, Aachen, Freiburg, Nürnberg, Mönchengladbach und Ravensburg. Hier wurde die Pagode Vien Duc errichtet, wo Thich Nhu Dien seit seinem Rücktritt von den Amtsgeschäften lebt. Auch in den östlichen Bundesländern gibt es vietnamesisch- buddhistische Aktivitäten: Im sächsischen Schmiedeberg rief Thich Hanh Tan, einer der ersten vollordinierten Schüler Thich Nhu Diens und zeitweise auch Abt der Pagode in Hannover, das Amitayus Klausurkloster ins Leben.